Gefühle beim Müll einsammeln

Gestern früh beobachtete ich mich dabei, wie ein Gedankenkarussell zu den verschiedensten Entscheidungen in mir losging. Das Karussell wollte mir einreden, dass jede dieser Entscheidungen lebensentscheidend wichtig war und begann, mich ganz kirre zu machen.
Meine Erfahrung zeigt, dass aus diesen Gedankenschleifen selten Konstruktives entsteht und so traf ich die Entscheidung, mich nicht weiter um mich selbst und meine ach so wichtigen Themen zu kreisen, sondern stattdessen einen Haufen Müll im Wald zu beseitigen, der mir ein paar Tage zuvor aufgefallen war.
Gesagt, getan. Ich packte einen Handschuh und Mülltüten und begann mit der Aufgabe.
Dabei spürte ich, wie das Einsammeln die unterschiedlichsten Gefühle in mir hervorrief.
Eine Vielzahl von Gefühlen
Zunächst war in mir Zufriedenheit, weil ich den Wald von dem Unrat befreite.
Dann steig in mir Wut auf angesichts der vielen Dinge, die sich zeigten und auch angesichts der schieren Menge an Müll, die durchaus vermuten ließ, dass hier jemand bewusst Müll abgeladen hatte.
Als Nächstes überfiel mich Ekel. Benutzte Einwegrasierer und eine undefinierbare Glibbermasse ließen mich erschaudern und mich außerdem die Dichtheit meines Handschuhs prüfen. Ich war angewidert.
Ich spürte Verurteilung und einen Anflug von Hass in mir aufsteigen: Hat jemand seine Mülltüte von zu Hause hier ausgeleert? Oder schmeißt jemand seinen Dreck einfach aus dem fahrenden Auto? Und überhaupt, warum produzieren wir Menschen soviel unnötige Produkte?
Ich schüttelte es ab und ließ Besonnenheit einkehren. Dabei half mir der Gedanke „Nicht mein Müll, aber meine Erde.“ Liebe kehrte wieder ein und ich ließ mich nicht beirren, obwohl die Müllspur immer weiter in den Wald hineinführte.
Anschließend kam der Humor zu Besuch. In Anlehnung an „Kunden, die dieses Produkt kauften, interessierten sich auch für jenes.“ fielen mir Sätze ein wie „Menschen, die Weichspüler in den Wald werfen, schmeißen auch Schinkenverpackungen weg.“
Dann, als ich mich immer mehr durchs Gehölz arbeiten musste und es kein Ende nahm, überkam mich ganz plötzlich Hilflosigkeit und der Gedanke, an wie vielen Stellen unsere Erde soviel Müll von uns tragen muss. Eine tiefe Traurigkeit überkam mich.
Als ich schließlich einen Regenwurm erblickte, der sich zwischen einem Strohhalm und einem Stück Alufolie vorbeibewegte, war kein Halten mehr. Ich weinte und weinte angesichts dieser schreienden Ungerechtigkeit. Wie können wir dies nur unseren tierischen und pflanzlichen Mitwesen antun? Scham befiel mich. Tiefe, tiefe Scham.
Aufgeben?
Als ich meine Traurigkeit, Ohnmacht und Scham schließlich ausgeweint und integriert hatte, geschah etwas Wunderbares. Ich bekam einen kräftigen Energieschub, „jetzt erst recht“, holte das Auto, um die prall gefüllte Tüte nach Hause bewegen zu können, holte Tütennachschub und sammelte binnen kürzester Zeit zwei weitere Tüten ein – bis ich so weit keinen Müll mehr sehen konnte.
Zur Resignation bin ich nicht bereit!
Im nächsten Moment meldeten sich tiefgehende Gedanken: Wenn Menschen so mit ihrer Mutter Erde umgehen, wie unendlich abgetrennt von ihr müssen sie sein, wie abgetrennt von sich selbst, der eigenen Urnatur?
Mitgefühl dehnte sich in mir aus. Mitgefühl, das immer wieder über die Tiere und Bäume hinaus auch zu den Menschen fließt, die dies verursachen.
Als ich den Ort verließ, war ich dankbar. Dankbar dafür, diesen Liebesdienst am Wald verrichtet zu haben. Dankbar für das Gefühlsbad, in das er mich gebracht hatte. Dankbar für die Erkenntnisse und all den Müll, den ich auch aus mir entlassen konnte.
Dankbar dafür, dass mein Gedankenkarussell vom Morgen längst Geschichte und der Hinwendung zum Wesentlichen gewichen war.
(zunächst erschienen auf www.newslichter.de
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